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Inhaltsverzeichnis
Kaimiškas – besondere Biere in Litauen
Strohfilter, eigene Hefestämme und ungekochte Würze: In Litauen haben uralte Brautraditionen überdauert und machen aus dem kleinen baltischen Staat eine große Biernation. Hier finden sich weltweit einzigartige Biere, die alle vertrauten Bierkategorien sprengen. Dennoch ist Litauens Einzigartigkeit und Vielfalt in Sachen Bier – zumindest im deutschsprachigen Raum – noch weitestgehend unbekannt. Eine Entdeckungsreise zu den Ursprüngen und Bewahrern litauischer Braukunst.
Die ganze Welt versinkt im Grün.
Wälder, Hügel, Bäume, Büsche: alles leuchtet in den verschiedensten Grüntönen. Ab und zu durchbrechen knallgelbe Löwenzahnwiesen, strahlend blauen Seen und hölzernen braune Hütten kurzzeitig die grüne Welt, dann schließt sich der dichte, grüne Rahmen wieder.
Greifvögel auf jedem dritten Zaun, alle hundert Meter ein Storchennest. Natur pur und irgendwie surreal.
Als hätte jemand den Die-perfekte-Idylle-Modus aktiviert. So ist das ländliche Litauen im Frühsommer.
Unser Auto und die Straße, auf der es kontinuierlich immer weiter gen Norden in die fruchtbare Landschaft eindringt, wirken hier wie Störenfriede, die Schmutz und Lärm ins Paradies bringen.
Der Ursprung Litauens als große Biernation
Wir, das sind in diesem Falle mein Feund Luke, unser Guide Vidmantas und ich, sind in der Region „Aukštaitija“ – auf Deutsch „Hochland“ – im Nordosten Litauens, nahe der Grenzen zu Lettland und Weißrussland.
In dieser abgeschiedenen, ländlichen Gegend liegt der Ursprung Litauens als Biernation mit einer einzigartigen Brau- und Bierkultur begründet.
Die hervorragende Wasserqualität und der überaus fruchtbare Boden haben dazu beigetragen, dass in „Aukštaitija“ schon seit Jahrhunderten Bier gebraut wird und sich hier auch heute noch das Epizentrum litauischer Brauereikunst befindet.
Wer die Ursprünge der litauischen Bierkultur ergründen will, muss sich auf den Weg in diese abgelegene Gegend machen.
„Vielleicht erklärt die Abgeschiedenheit der Brauereien sowie die eher auf ihre Region konzentrierte Mentalität vieler Einwohner der „Aukštaitija“ auch ein stückweit, wie sich die litauische Bierkultur weitestgehend unbeeinflusst und unbeachtet von außen entwickeln konnte“, philosophiert Vidmantas , während er das Auto über einen sandigen Holperweg quält.
Vidmantas ist Bierexperte und derFachmann für litauische Bierkultur. Er kennt alle bedeutenden Brauer persönlich und fungiert als Guide und Mittler zu den kleinen Handwerksbrauereien.
Seit mehr als 15 Jahren erforscht er nun die litauischen Brautraditionen und ist immer noch fasziniert von den Methoden und dem Reichtum an überliefertem Wissen der traditionellen Brauer.
Alte Brautraditionen und gegenwärtige Braukultur
„Litauen hat eine irre große Biervielfalt, vor allem, wenn man sie in Beziehung zur Einwohnerzahl von etwa 3 Millionen setzt.“
„Litauen hat eine irre große Biervielfalt, vor allem, wenn man sie in Beziehung zur Einwohnerzahl von etwa 3 Millionen setzt.“, erklärt er.
„Was die Bierkultur in Litauen aber so besonders macht, ist die Tatsache, dass sich hier alte und einmalige Bierstile und Brautraditionen bis in die Gegenwart nicht nur gehalten haben, sondern auch in weiten Teilen Bestandteil der gegenwärtigen Bier- und Barkultur sind.“
Und vor allem letzteres macht den besonderen Reiz eines Litauenbesuches für Bierliebhaber aus aller Welt aus.
Altes Bierhandwerk und familiäre Brauereien, die aus Liebe zur Tradition und Braukunst seit Generationen auf ihrem Hof für den privaten Gebrauch Bier brauen, finden sich auch anderswo.
Aber nirgendwo sonst kann man als Bierliebhaber in der jeweiligen Landeshauptstadt in eine Bar gehen und eines dieser besonderen Biere ordern.
Da traditionell die Zuordnung eines Bieres zu einem bestimmten Bierstil in Litauen keine Rolle gespielt hat, tun sich auch heute noch viele traditionelle Brauer schwer damit, ihr Bier in eine der gängigen Bierschubladen zu stecken.
Namen nach Farben
Normalerweise wurden und werden litauische Biere lediglich nach ihrer Farbe benannt oder haben sehr individuelle Eigennamen. Das macht es für den ausländischen Bierliebhaber oft nicht leicht, das Geschmackserlebnis einordnen zu können und führt auch zu vielen Falschzuordnungen bei Bewertungsportalen wie „RateBeer“ oder „Untappd“.
„Man sollte vor dem ersten Schluck traditionellen litauischen Bieres sein Gehirn resetten“
„Man sollte vor dem ersten Schluck traditionellen litauischen Bieres sein Gehirn resetten“, empfiehlt Lars Marius Garshol.
Der Norweger hat sich intensiv mit den litauischen Brautraditionen beschäftigt und ein ganzes Buch zu dem Thema veröffentlicht.
„Wir haben es hier mit einer eigenständigen Bier- und Brautradition zu tun, die ihren eigenen Referenzrahmen entwickelt hat und dementsprechend behandelt werden sollte“, so Garshol.
Sogar die grundlegende Zuordnung zu Lager oder Ale funktioniert bei den traditionellen Bieren nur bedingt, da einige der verwendeten Familienhefen sowohl ober- als auch untergärig arbeiten.
Dementsprechend diffus werden die traditionellen Biere in Litauen unter dem Begriff „Kaimiškas“ zusammengefasst, was sich mit „Landbier“ übersetzen lässt, und fallen international wohl am ehesten in die Kategorie der „Farmhouse Ales“.
Ein spannendes Abenteuer
Was auf den ersten Blick vielleicht für Verzweiflung bei einigen sorgen mag, da ein Teil ihres Bierwissens auf den Kopf gestellt wird und sie ganz neu zu denken und zu kategorisieren lernen müssen, offenbart sich bei näherer Betrachtung als ein spannendes Abenteuer, bei dem der eigene Bierhorizont noch mal gehörig erweitert werden kann.
Ramūnas Čižas war der erste traditionelle Brauer Litauens, der sein Bier auch außerhalb seiner Heimatregion kommerziell an ausgewählte Bars vertrieb. Sein Keptinis, ein aus gebackenem Malz gewonnenes „Raw Ale“, bei dem die Maische nach traditioneller Art mit Stroh gefiltert wird, ist mittlerweile dauerhaft in drei Bars der litauischen Hauptstadt Vilnius erhältlich.
Čižas sieht sich als Wahrer der heidnischen litauischen Traditionen, bevor diese durch den Einzug des Christentums grundlegend verändert wurden:
„Früher wurde dunkles Bier wie mein keptinis nur zu besonderen Anlässen gebraut und oftmals rituell verwendet, ähnlich dem Messewein im Christentum. Auch für mich ist das Brauen mehr als ein Broterwerb. Es ist vielmehr ein Teilstück meiner Identität als Litauer, der eng mit der Natur und den kulturellen Wurzeln seiner Vorfahren verbunden ist.“
Die Königin der litauischen Biere
In einer ähnlich großen traditionellen Verpflichtung sieht sich auch Aldona Udrienė, die von den Litauern respektvoll „Königin der litauischen Biere“ genannt wird.
Das die „Königin“ bald 80 Jahre alt wird, sieht und merkt man ihr nicht an. Überschäumend vor Energie und Tatendrang sowie unglaublich gastfreundlich heißt sie uns in ihrer kleinen Brauerei willkommen.
Hunde bellen, Kinder spielen auf der Straße, die von Einfamilienhäusern geprägt wird. Die gepflegten Vorgärten, mit Blumen angelegte Beete und sorgsam zurechtgestutzte Hecken lassen nicht vermuten, dass sich hier eine Brauerei befindet. Und selbst auf dem Gelände der Brauerei lässt sich diese nicht sofort erkennen.
Udrienė braut ihr „Jovaru Alus“, benannt nach ihrem Wohnort Jovarai, direkt neben ihrem Wohnhaus in einer Art Schuppen.
Lediglich die zwei hölzernen Bierfässer, die ihren zwei kleinen Hunden als Rückzugsorte dienen, deuten ansatzweise darauf hin, dass dieser Ort etwas mit Bier zu tun hat.
Dies wird erst im Inneren des „Schuppens“ deutlich, der sich dort sofort als unkonventionelle Brauerei offenbart. Der mit Holz befeuerte Ofen, mit dem das Wasser erwärmt wird, offene Gärschiffe und die Abwesenheit eines Sudkessels fallen sofort ins Auge.
Nahe liegend, dass auf solch einer ungewöhnlichen Anlage auch ein äußerst ungewöhnliches Bier gebraut wird.
Das „Jovaru Alus“, von dem es auch noch eine Honigvariante gibt, ist ebenfalls ein „Raw Ale“, die Bierwürze wird dementsprechend nicht gekocht.
Hopfentee und uralte Familienhefen
Udrienė kocht stattdessen – genau wie Cizas für sein Keptinis – eine Art Hopfentee, der der Bierwürze zugefügt wird.
Die Hefe, die Udrienė genau wie das Rezept des Bieres von ihrem Großvater geerbt hat, wird der Würze bei 29 °C zugefügt.
Diese ungewöhnliche Hefe, die bis vor einigen Jahren noch überhaupt nicht klassifiziert war und deren Ursprung laut Udrienė auf eine wilde Hefe zurückgeht, die ihr Großvater vor 130 Jahren aus dem Wald mitbrachte, ist maßgeblich für den ungewöhnlichen und einzigartigen Geschmack ihres „Jovaru Alus“ verantwortlich.
Udrienė ist nicht die einzige, die eigene Hefe besitzt und verwendet. Auch andere traditionelle litauische Brauer verwenden für ihr Bier ausschließlich familieneigene, von Generation zu Generation weitergegebene, Hefestämme.
Die Innigkeit, mit der sie alle ihre Hefe verehren und die Geheimniskrämerei um selbige, haben etwas von Religiosität.
Aber wer könnte es ihnen verübeln, schließlich können nicht viele Brauer von sich behaupten, familieneigene Hefestämme, die sich seit teilweise über 100 Jahren in Familienbesitz befinden, für ihr Bier zu verwenden.
Rotklee-Bier vom Box-Profi
Wieder hüpft das Auto auf sandigen Wegen zurück in Richtung Autobahn. Eine weitere Brauerei steht auf dem Programm.
Dieses Mal gibt es aber keine Brauereibesichtigung, sondern wir besuchen den Brauer Vidmantas Perevičius in seiner Bar „Prie Uosio“ in Panevėžys.
Die Großstadt liegt etwa 130 Kilometer nördlich der Hauptstadt Vilnius und scheint auf den ersten Blick grau und urban.
Doch dann biegt das Auto in eine kleine Kopfsteinpflasterstraße ein und hält direkt zwischen einer grünen Wiese und einem wunderschönen bunten Holzhaus, dem „Prie Uosio“.
Die Bar und ihre Einrichtung atmen Tradition. Die ganze Einrichtung ist aus Holz und an den Wänden finden sich altertümliche Schlüssel jeder Größe. Im Innenhof steht eine Feuerstelle für gemütliche Abende bereit. Alte Bierkrüge aus Ton hängen hinter der Theke, direkt davor steht ein Bär von einem Mann.
Vidmantas Perevičius war früher Profiboxer und ist auch heute noch als Boxtrainer aktiv. Aufmerksame, freundliche Augen, ein kurzer Bürstenhaarschnitt, kantige Gesichtszüge und von Lachfalten durchzogene Wangen um Mund und Augen: Es ist sofort klar, dieser Mann lacht viel und gerne.
„Ich habe 1990 angefangen zu brauen und meine Brauerei „Piniavos Alutis“ gegründet, ein Jahr nachdem mir mein älterer Bruder die Rezepte für die Biere meiner Großmutter anvertraut hat“
„Ich habe 1990 angefangen zu brauen und meine Brauerei „Piniavos Alutis“ gegründet, ein Jahr nachdem mir mein älterer Bruder die Rezepte für die Biere meiner Großmutter anvertraut hat“, erklärt Perevičius, während er ein Bier zapft, bei dem 50 Prozent der Hopfenbeigabe durch roten Klee ersetzt wurde.
„Sie war hier in der Gegend sehr bekannt für ihr gutes Bier und ich wollte diese Familientradition gerne fortführen. Mir ist es wichtig, die alten Techniken und Brauchtümer zu bewahren und der jungen Generation zu zeigen, wie reich und einzigartig die litauische Bierkultur ist.“
Dafür geht Perevičius auch gerne in den Wald, um Himbeerstängel abzuschneiden und aus denen dann – ganz nach Rezeptur der Großmutter – ein köstliches Bier zu brauen, das am besten frisch gezapft im „Prie Uosio“ schmeckt.
Generell ist es ratsam, die „Kaimiškas“ so frisch wie möglich zu trinken, da sie alle relativ schnell sauer werden und nicht gerne auf Reisen gehen.
Am besten schmecken sie frisch gezapft direkt in den Brauerein, aber auch in Vilnius sind sie meistens noch in guter Qualität anzutreffen.
Der Baum der Wünsche
Gegenüber des „Prie Uosio“ steht eine Esche, die über und über mit angenagelten Schlüsseln versehen ist.
Der Legende nach Schlug einst der Blitz in sie ein und sie verlor all ihr Grün. Kurz darauf nagelte jemand den ersten Schlüssel in die Rinde und wünschte sich, dass der Baum wieder zu blühen beginne.
Der eine Schlüssel blieb nicht lang allein und viele weitere legten der Esche ihre Wünsche dar.
Eines Nachts fuhr der Blitz abermals in den Baum und kurz darauf grünte er wieder. Damit war auch der letzte Skeptiker zum Schweigen gebracht und es gilt mittlerweile als gesichert, dass diese Esche Wünsche erfüllt.
Perevičius drückt mir einen Schlüssel, Hammer und Nagel in die Hand und lacht mir zu. „Dein Wunsch für Litauen!“, sagt er.
Mögen die „Kaimiškas“
bald doch etwas länger haltbar bleiben, damit mehr Menschen in den Genuss
dieser faszinierenden Biere kommen können!
Doch bis dahin kann ich jedem nur
empfehlen, in dem kleinen baltischen Staat mit der großen Bierkultur auf
Entdeckungsreise zu gehen.
Info: Leider ist der Tourguide und litauische Bierexperte Vidmantas Laurinavičius 2019 verstorben und eine Tour wie die hier beschriebene ist meines Wissens derzeit nicht mehr machbar.
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Kaimiškas – besondere Biere in Litauen
Strohfilter, eigene Hefestämme und ungekochte Würze: In Litauen haben uralte Brautraditionen überdauert und machen aus dem kleinen baltischen Staat eine große Biernation. Hier finden sich weltweit einzigartige Biere, die alle vertrauten Bierkategorien sprengen. Dennoch ist Litauens Einzigartigkeit und Vielfalt in Sachen Bier – zumindest im deutschsprachigen Raum – noch weitestgehend unbekannt. Eine Entdeckungsreise zu den Ursprüngen und Bewahrern litauischer Braukunst.
Die ganze Welt versinkt im Grün.
Wälder, Hügel, Bäume, Büsche: alles leuchtet in den verschiedensten Grüntönen. Ab und zu durchbrechen knallgelbe Löwenzahnwiesen, strahlend blauen Seen und hölzernen braune Hütten kurzzeitig die grüne Welt, dann schließt sich der dichte, grüne Rahmen wieder.
Greifvögel auf jedem dritten Zaun, alle hundert Meter ein Storchennest. Natur pur und irgendwie surreal.
Als hätte jemand den Die-perfekte-Idylle-Modus aktiviert. So ist das ländliche Litauen im Frühsommer.
Unser Auto und die Straße, auf der es kontinuierlich immer weiter gen Norden in die fruchtbare Landschaft eindringt, wirken hier wie Störenfriede, die Schmutz und Lärm ins Paradies bringen.
Der Ursprung Litauens als große Biernation
Wir, das sind in diesem Falle mein Feund Luke, unser Guide Vidmantas und ich, sind in der Region „Aukštaitija“ – auf Deutsch „Hochland“ – im Nordosten Litauens, nahe der Grenzen zu Lettland und Weißrussland.
In dieser abgeschiedenen, ländlichen Gegend liegt der Ursprung Litauens als Biernation mit einer einzigartigen Brau- und Bierkultur begründet.
Die hervorragende Wasserqualität und der überaus fruchtbare Boden haben dazu beigetragen, dass in „Aukštaitija“ schon seit Jahrhunderten Bier gebraut wird und sich hier auch heute noch das Epizentrum litauischer Brauereikunst befindet.
Wer die Ursprünge der litauischen Bierkultur ergründen will, muss sich auf den Weg in diese abgelegene Gegend machen.
„Vielleicht erklärt die Abgeschiedenheit der Brauereien sowie die eher auf ihre Region konzentrierte Mentalität vieler Einwohner der „Aukštaitija“ auch ein stückweit, wie sich die litauische Bierkultur weitestgehend unbeeinflusst und unbeachtet von außen entwickeln konnte“, philosophiert Vidmantas , während er das Auto über einen sandigen Holperweg quält.
Vidmantas ist Bierexperte und der Fachmann für litauische Bierkultur. Er kennt alle bedeutenden Brauer persönlich und fungiert als Guide und Mittler zu den kleinen Handwerksbrauereien.
Seit mehr als 15 Jahren erforscht er nun die litauischen Brautraditionen und ist immer noch fasziniert von den Methoden und dem Reichtum an überliefertem Wissen der traditionellen Brauer.
Alte Brautraditionen und gegenwärtige Braukultur
„Litauen hat eine irre große Biervielfalt, vor allem, wenn man sie in Beziehung zur Einwohnerzahl von etwa 3 Millionen setzt.“, erklärt er.
„Was die Bierkultur in Litauen aber so besonders macht, ist die Tatsache, dass sich hier alte und einmalige Bierstile und Brautraditionen bis in die Gegenwart nicht nur gehalten haben, sondern auch in weiten Teilen Bestandteil der gegenwärtigen Bier- und Barkultur sind.“
Und vor allem letzteres macht den besonderen Reiz eines Litauenbesuches für Bierliebhaber aus aller Welt aus.
Altes Bierhandwerk und familiäre Brauereien, die aus Liebe zur Tradition und Braukunst seit Generationen auf ihrem Hof für den privaten Gebrauch Bier brauen, finden sich auch anderswo.
Aber nirgendwo sonst kann man als Bierliebhaber in der jeweiligen Landeshauptstadt in eine Bar gehen und eines dieser besonderen Biere ordern.
Da traditionell die Zuordnung eines Bieres zu einem bestimmten Bierstil in Litauen keine Rolle gespielt hat, tun sich auch heute noch viele traditionelle Brauer schwer damit, ihr Bier in eine der gängigen Bierschubladen zu stecken.
Namen nach Farben
Normalerweise wurden und werden litauische Biere lediglich nach ihrer Farbe benannt oder haben sehr individuelle Eigennamen. Das macht es für den ausländischen Bierliebhaber oft nicht leicht, das Geschmackserlebnis einordnen zu können und führt auch zu vielen Falschzuordnungen bei Bewertungsportalen wie „RateBeer“ oder „Untappd“.
„Man sollte vor dem ersten Schluck traditionellen litauischen Bieres sein Gehirn resetten“, empfiehlt Lars Marius Garshol.
Der Norweger hat sich intensiv mit den litauischen Brautraditionen beschäftigt und ein ganzes Buch zu dem Thema veröffentlicht.
„Wir haben es hier mit einer eigenständigen Bier- und Brautradition zu tun, die ihren eigenen Referenzrahmen entwickelt hat und dementsprechend behandelt werden sollte“, so Garshol.
Sogar die grundlegende Zuordnung zu Lager oder Ale funktioniert bei den traditionellen Bieren nur bedingt, da einige der verwendeten Familienhefen sowohl ober- als auch untergärig arbeiten.
Dementsprechend diffus werden die traditionellen Biere in Litauen unter dem Begriff „Kaimiškas“ zusammengefasst, was sich mit „Landbier“ übersetzen lässt, und fallen international wohl am ehesten in die Kategorie der „Farmhouse Ales“.
Ein spannendes Abenteuer
Was auf den ersten Blick vielleicht für Verzweiflung bei einigen sorgen mag, da ein Teil ihres Bierwissens auf den Kopf gestellt wird und sie ganz neu zu denken und zu kategorisieren lernen müssen, offenbart sich bei näherer Betrachtung als ein spannendes Abenteuer, bei dem der eigene Bierhorizont noch mal gehörig erweitert werden kann.
Ramūnas Čižas war der erste traditionelle Brauer Litauens, der sein Bier auch außerhalb seiner Heimatregion kommerziell an ausgewählte Bars vertrieb. Sein Keptinis, ein aus gebackenem Malz gewonnenes „Raw Ale“, bei dem die Maische nach traditioneller Art mit Stroh gefiltert wird, ist mittlerweile dauerhaft in drei Bars der litauischen Hauptstadt Vilnius erhältlich.
Čižas sieht sich als Wahrer der heidnischen litauischen Traditionen, bevor diese durch den Einzug des Christentums grundlegend verändert wurden:
„Früher wurde dunkles Bier wie mein keptinis nur zu besonderen Anlässen gebraut und oftmals rituell verwendet, ähnlich dem Messewein im Christentum. Auch für mich ist das Brauen mehr als ein Broterwerb. Es ist vielmehr ein Teilstück meiner Identität als Litauer, der eng mit der Natur und den kulturellen Wurzeln seiner Vorfahren verbunden ist.“
Die Königin der litauischen Biere
In einer ähnlich großen traditionellen Verpflichtung sieht sich auch Aldona Udrienė, die von den Litauern respektvoll „Königin der litauischen Biere“ genannt wird.
Das die „Königin“ bald 80 Jahre alt wird, sieht und merkt man ihr nicht an. Überschäumend vor Energie und Tatendrang sowie unglaublich gastfreundlich heißt sie uns in ihrer kleinen Brauerei willkommen.
Hunde bellen, Kinder spielen auf der Straße, die von Einfamilienhäusern geprägt wird. Die gepflegten Vorgärten, mit Blumen angelegte Beete und sorgsam zurechtgestutzte Hecken lassen nicht vermuten, dass sich hier eine Brauerei befindet. Und selbst auf dem Gelände der Brauerei lässt sich diese nicht sofort erkennen.
Udrienė braut ihr „Jovaru Alus“, benannt nach ihrem Wohnort Jovarai, direkt neben ihrem Wohnhaus in einer Art Schuppen.
Lediglich die zwei hölzernen Bierfässer, die ihren zwei kleinen Hunden als Rückzugsorte dienen, deuten ansatzweise darauf hin, dass dieser Ort etwas mit Bier zu tun hat.
Dies wird erst im Inneren des „Schuppens“ deutlich, der sich dort sofort als unkonventionelle Brauerei offenbart. Der mit Holz befeuerte Ofen, mit dem das Wasser erwärmt wird, offene Gärschiffe und die Abwesenheit eines Sudkessels fallen sofort ins Auge.
Nahe liegend, dass auf solch einer ungewöhnlichen Anlage auch ein äußerst ungewöhnliches Bier gebraut wird.
Das „Jovaru Alus“, von dem es auch noch eine Honigvariante gibt, ist ebenfalls ein „Raw Ale“, die Bierwürze wird dementsprechend nicht gekocht.
Hopfentee und uralte Familienhefen
Udrienė kocht stattdessen – genau wie Cizas für sein Keptinis – eine Art Hopfentee, der der Bierwürze zugefügt wird.
Die Hefe, die Udrienė genau wie das Rezept des Bieres von ihrem Großvater geerbt hat, wird der Würze bei 29 °C zugefügt.
Diese ungewöhnliche Hefe, die bis vor einigen Jahren noch überhaupt nicht klassifiziert war und deren Ursprung laut Udrienė auf eine wilde Hefe zurückgeht, die ihr Großvater vor 130 Jahren aus dem Wald mitbrachte, ist maßgeblich für den ungewöhnlichen und einzigartigen Geschmack ihres „Jovaru Alus“ verantwortlich.
Udrienė ist nicht die einzige, die eigene Hefe besitzt und verwendet. Auch andere traditionelle litauische Brauer verwenden für ihr Bier ausschließlich familieneigene, von Generation zu Generation weitergegebene, Hefestämme.
Die Innigkeit, mit der sie alle ihre Hefe verehren und die Geheimniskrämerei um selbige, haben etwas von Religiosität.
Aber wer könnte es ihnen verübeln, schließlich können nicht viele Brauer von sich behaupten, familieneigene Hefestämme, die sich seit teilweise über 100 Jahren in Familienbesitz befinden, für ihr Bier zu verwenden.
Rotklee-Bier vom Box-Profi
Wieder hüpft das Auto auf sandigen Wegen zurück in Richtung Autobahn. Eine weitere Brauerei steht auf dem Programm.
Dieses Mal gibt es aber keine Brauereibesichtigung, sondern wir besuchen den Brauer Vidmantas Perevičius in seiner Bar „Prie Uosio“ in Panevėžys.
Die Großstadt liegt etwa 130 Kilometer nördlich der Hauptstadt Vilnius und scheint auf den ersten Blick grau und urban.
Doch dann biegt das Auto in eine kleine Kopfsteinpflasterstraße ein und hält direkt zwischen einer grünen Wiese und einem wunderschönen bunten Holzhaus, dem „Prie Uosio“.
Die Bar und ihre Einrichtung atmen Tradition. Die ganze Einrichtung ist aus Holz und an den Wänden finden sich altertümliche Schlüssel jeder Größe. Im Innenhof steht eine Feuerstelle für gemütliche Abende bereit. Alte Bierkrüge aus Ton hängen hinter der Theke, direkt davor steht ein Bär von einem Mann.
Vidmantas Perevičius war früher Profiboxer und ist auch heute noch als Boxtrainer aktiv. Aufmerksame, freundliche Augen, ein kurzer Bürstenhaarschnitt, kantige Gesichtszüge und von Lachfalten durchzogene Wangen um Mund und Augen: Es ist sofort klar, dieser Mann lacht viel und gerne.
„Ich habe 1990 angefangen zu brauen und meine Brauerei „Piniavos Alutis“ gegründet, ein Jahr nachdem mir mein älterer Bruder die Rezepte für die Biere meiner Großmutter anvertraut hat“, erklärt Perevičius, während er ein Bier zapft, bei dem 50 Prozent der Hopfenbeigabe durch roten Klee ersetzt wurde.
„Sie war hier in der Gegend sehr bekannt für ihr gutes Bier und ich wollte diese Familientradition gerne fortführen. Mir ist es wichtig, die alten Techniken und Brauchtümer zu bewahren und der jungen Generation zu zeigen, wie reich und einzigartig die litauische Bierkultur ist.“
Dafür geht Perevičius auch gerne in den Wald, um Himbeerstängel abzuschneiden und aus denen dann – ganz nach Rezeptur der Großmutter – ein köstliches Bier zu brauen, das am besten frisch gezapft im „Prie Uosio“ schmeckt.
Generell ist es ratsam, die „Kaimiškas“ so frisch wie möglich zu trinken, da sie alle relativ schnell sauer werden und nicht gerne auf Reisen gehen.
Am besten schmecken sie frisch gezapft direkt in den Brauerein, aber auch in Vilnius sind sie meistens noch in guter Qualität anzutreffen.
Der Baum der Wünsche
Gegenüber des „Prie Uosio“ steht eine Esche, die über und über mit angenagelten Schlüsseln versehen ist.
Der Legende nach Schlug einst der Blitz in sie ein und sie verlor all ihr Grün. Kurz darauf nagelte jemand den ersten Schlüssel in die Rinde und wünschte sich, dass der Baum wieder zu blühen beginne.
Der eine Schlüssel blieb nicht lang allein und viele weitere legten der Esche ihre Wünsche dar.
Eines Nachts fuhr der Blitz abermals in den Baum und kurz darauf grünte er wieder. Damit war auch der letzte Skeptiker zum Schweigen gebracht und es gilt mittlerweile als gesichert, dass diese Esche Wünsche erfüllt.
Perevičius drückt mir einen Schlüssel, Hammer und Nagel in die Hand und lacht mir zu. „Dein Wunsch für Litauen!“, sagt er.
Mögen die „Kaimiškas“ bald doch etwas länger haltbar bleiben, damit mehr Menschen in den Genuss dieser faszinierenden Biere kommen können!
Doch bis dahin kann ich jedem nur empfehlen, in dem kleinen baltischen Staat mit der großen Bierkultur auf Entdeckungsreise zu gehen.
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